Digitalisierung der Justiz

Im Gespräch mit Isabelle Biallaß, Richterin am Oberlandesgerichts Hamm, Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstags

Jana Freiburg: Die Digitalisierung der Justiz wird oft als Schlüssel zur Modernisierung unseres Rechtssystems bezeichnet. Ohne Ihren gesamten Vortrag beim 12. Deutschen IT-Rechtstag zu dem Thema vorwegnehmen zu wollen: Wie bewerten Sie die bisherigen Fortschritte der Digitalisierung der Justiz in Deutschland? Wo sehen Sie die größten Erfolge und wo noch Nachholbedarf?

Isabelle Biallaß: Wir haben – und das war auch dringend nötig – in den letzten Jahren merkliche Fortschritte bei der Digitalisierung der Justiz gemacht. Die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs ist für professionelle Einreicher verpflichtend, bis zum Ende des Jahres müssen alle Gerichte und Staatsanwaltschaften neue Verfahren in elektronischen Akten bearbeiten, Videoverhandlungen sind keine Randerscheinungen mehr, sondern tatsächlich im Gerichtsalltag angekommen. Durch die Digitalisierungsinitiative für die Justiz hat sich das Bundesministerium der Justiz erstmals aktiv fachlich und finanziell an Digitalisierungsvorhaben der Länder beteiligt und eigene vielversprechende Vorhaben, wie die Schaffung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens, die Schaffung einer digitalen Rechtsantragstelle und die Konzeptionierung einer bundeseinheitlichen Justizcloud auf den Weg gebracht. Durch die Arbeit der Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ – an der ich mitwirken durfte –, in deren Abschlussbericht auch Überlegungen zum Einsatz digitaler Werkzeuge gemacht werden, liegen in gebündelter Form gute Vorschlage vor, wie die nächsten Schritte aussehen werden. Wir befinden uns aktuell mitten in einem Wechsel zu einer modernen, digitalen Arbeitsweise. Es ist wichtig, dass dieser weiter Fahrt aufnimmt und nicht an Momentum verliert. Daher sind die der Presseberichterstattung zu entnehmenden Pläne, in den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD 400 Millionen Euro für die Digitalisierung der Justiz bereitzustellen ein positives Signal.

Jana Freiburg: Die Einführung der elektronischen Akte ist nur ein Beispiel für die Digitalisierung in der Justiz. Können Sie uns weitere Beispiele nennen, um eine genauere Vorstellung von dem weiten Feld der Digitalisierung zu bekommen? Welche konkreten Vorteile sehen Sie in den entsprechenden Technologien? Können Sie die Vorteile auch schon in Ihrem Arbeitsalltag als Richterin beobachten?

Isabelle Biallaß: Es gibt viele Beispiele für die fortschreitende Digitalisierung der Justiz. Neben der elektronischen Akte und dem elektronischen Rechtsverkehr sind insbesondere die Möglichkeit der Videoverhandlung und der automatischen Spracherkennung von Diktaten von Relevanz. Hierdurch hat sich der Arbeitsalltag aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Gerichten und den Serviceeinheiten verändert und natürlich auch mein eigener. Zudem gibt es zahlreiche Pilotprojekte, in denen weitere Digitalisierungsmöglichkeiten, z. B. durch Automatisierung und Künstliche Intelligenz, erprobt werden.

Jana Freiburg: Ein wichtiger Aspekt der Digitalisierung ist auch der verbesserte Zugang zur Justiz für Bürger:innen. Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig um diesen Zugang im digitalen Zeitalter zu erleichtern und zu verbessern?

Isabelle Biallaß: Es gibt bereits mehrere Pilotprojekte, die insbesondere den Zugang zum Recht für Bürgerinnen und Bürger verbessern sollen. In dem von mir schon eingangs erwähnten Projekt digitale Rechtsantragstelle arbeiten das Bundesministerium der Justiz und der DigitalService mit 10 Landesjustizverwaltungen und 18 Pilotgerichten zusammen. Die Arbeiten erfolgen nach modernen Prinzipien der Softwareentwicklung. Im Rahmen des nutzerzentrierten Ansatzes wurden zahlreiche Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rechtsantragstellen und Bürgerinnen geführt, so dass die Nutzerreise von Anfang bis zum Ende bei der Projektumsetzung mitgedacht werden kann. Gleiches gilt für das Projekt zivilgerichtliches Online-Verfahren des Bundesministeriums der Justiz und des DigitalService, in dem erst vor kurzem der Launch eines Onlinedienstes, mit dem Bürgerinnen und Bürger eine Klage auf Entscheidung nach der Fluggastrechteverordnung mithilfe eines digitalen Eingabesystems erstellen und diese bei pilotierenden Gerichten einreichen können. Mehr Informationen zu beiden Projekten finden sich unter https://www.zugang-zum-recht-projekte.de.

Jana Freiburg: Die Digitalisierung erfordert nicht nur neue Technologien, sondern auch eine Anpassung gesetzlicher Rahmenbedingungen. Welche rechtlichen Änderungen sind aus Ihrer Sicht besonders dringend notwendig, um digitale Prozesse weiter voranzutreiben?

Isabelle Biallaß: Hier kann ich für den Zivilprozess auf den ebenfalls schon eingangs erwähnten Abschlussbericht der Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ verweisen. Wir haben Vorschläge zu digitalen Werkzeugen gemacht, die künftig im Zivilprozess zum Einsatz kommen sollen. Viele dieser Vorschläge würden den Zugang zum Recht für Bürgerinnen und Bürger weiter verbessern, z. B. durch ein Bund-Länder-Justizportal als zentrale digitale Anlaufstelle oder digitale interaktive Eingabe und Abfragesysteme statt klassischer Formulare. Darüber hinaus haben wir Rahmenbedingungen für eine effektive Ziviljustiz skizziert, z. B. durch mehr Spezialisierung, eine Stärkung des Kammerprinzips und eine Steigerung der Veröffentlichungsquote von Entscheidungen. Das Erkenntnisverfahren soll durch eine Erweiterung und zeitgemäße Modernisierung des zivilrichterlichen Werkzeugkoffers effektiver werden. Das Verfahrensrecht soll vereinfacht werden. Des Weiteren sprechen wir uns für die gesetzliche Schaffung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens aus. Ein dahingehender Gesetzesentwurf aus der letzten Legislaturperiode, der für die nächsten Schritte des Projekts zivilgerichtliches Online-Verfahren wichtig war, ist leider der Diskontinuität unterfallen. Zudem haben wir uns auch zu dem Modernisierungsbedarf außerhalb von ZPO und GVG geäußert. Man muss sich bei dem Studium des Abschlussberichts aber bewusst machen, dass wir uns bei den sechsmonatigen Arbeiten der Kommission innerhalb unseres Arbeitsauftrags bewegt haben und es in zahlreichen weitere Bereichen Reformbedarf gibt. Auch die weiteren Verfahrensordnungen bedürfen einer Aktualisierung.

Jana Freiburg: Gerne würde ich auch etwas über Ihren persönlichen Werdegang erfahren: Was hat Sie dazu inspiriert, Richterin zu werden? Gab es Schlüsselmomente oder Vorbilder, die Ihren Weg geprägt haben?

Isabelle Biallaß: Ich hatte während des Studiums nie vor, Richterin zu werden. Mein Wahlfach war Wirtschaftsrecht und ich habe an einem Lehrstuhl für IT-Recht gearbeitet. Meine Meinung habe ich dann während des Referendariats geändert. Die Richterinnen und Richter, die ich während dieser Zeit kennengelernt habe, vermittelten eine große Zufriedenheit mit ihrer Jobwahl. Die wertstiftende Tätigkeit und die große Lebenszufriedenheit haben mich dann sehr gereizt und ich habe mich nach dem zweiten Examen beim OLG Hamm als Richterin beworben, bin sofort zum Assessmentcenter eingeladen worden und war schneller, als ich erwartet hätte, Richterin.

Jana Freiburg: Die Digitalisierung verändert nicht nur die Arbeitsweise der Gerichte, sondern auch die Arbeit von Richter:innen selbst. Welche neuen Kompetenzen sind aus Ihrer Sicht erforderlich, um den Anforderungen einer digitalen Justiz gerecht zu werden?

Isabelle Biallaß: Richterinnen und Richter müssen nicht plötzlich alle anfangen prompten oder sogar coden zu können. Sie müssen aber – und dies gilt genauso für ihre juristische Weiterbildung – fortbildungswillig sein. Idealerweise werden künftige Anwendungen über ein so gutes UX-Design verfügen, dass tagelange Anwenderschulungen nicht mehr notwendig sind. Stattdessen sollte es Fortbildungen zur Förderung der Digitalkompetenz, insbesondere auch der KI-Kompetenz, geben. Hier ist es wichtig, dass die Kolleginnen und Kollegen sich angesprochen fühlen, die nicht besonderes digitalaffin sind und sich Wissen schon privat angeeignet haben. Ich arbeite beim Oberlandesgerichts Hamm und in unserem Bezirk haben wir mehrere gute Fortbildungsangebote.

Jana Freiburg: Als Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstags haben Sie eine wichtige Rolle in der Gestaltung der digitalen Zukunft der Justiz. Welche Ziele verfolgen Sie in dieser Position? Wie sehen Sie die Bedeutung des EDV-Gerichtstags für die Weiterentwicklung der Digitalisierung der Justiz?

Isabelle Biallaß: In diesem Jahr findet vom 10. bis 12. September 2025 der 34. EDVGT an der Universität des Saarlandes unter dem Motto „Next Generation Law – Von AI bis ZPO digital“ statt. Seit über drei Jahrzehnten setzen wir uns für den Austausch zwischen Juristeninnen und Juristen und Informatikerinnen und Informatikern, Wissenschaft und Praxis ein. Wir befassen uns mit Fragen der Digitalisierung in Gesetzgebung und Rechtsanwendung. Beispielsweise waren drei Vorstandsmitglieder des Vereins Mitglieder der bereits erwähnten Reformkommission Zivilprozess der Zukunft (Frau Präsidentin OLG Stefanie Otte, Celle, Frau Prof. Dr. Anne Paschke, TU Braunschweig und ich). Zudem habe ich das Vergnügen, die gemeinsame Kommission elektronischer Rechtsverkehr zu leiten, an der Vertreter der Anwaltschaft, der Notare, der Landesjustizverwaltungen, des Bundesministeriums der Justiz, Richterinnen und Richter aus der ordentlichen und der Fachgerichtsbarkeit sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und Vertreterinnen und Vertreter der Anwaltssoftwarehersteller teilnehmen und diskutieren.

Jana Freiburg: Vielen Dank für Ihre Antworten und Einblicke! Ich wünsche Ihnen viel Freude und einen guten Austausch auf dem 12. Deutschen IT-Rechtstag!

Lea Stegemann

Isabelle Biallaß, Richterin am Oberlandesgerichts Hamm, Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstags

Jana Freiburg

Jana Freiburg, Studentische Mitarbeiterin bei HK2 Rechtsanwälte